In der zweitletzten Woche meines Austauschsemester erhielt ich Einblicke ins französische Schulwesen.
Klassenzimmer „école maternelle moyenne section“ = Kindergaten
Teil unseres Austauschsemesters war ja auch ein „Praktikum“, bei dem wir während einer Woche in einer französischen Klasse sitzen mussten und den Unterricht beobachten sowie mit dem vergleichen, was wir über dir „neue Didaktik“ gelernt hatten, während dem ersten Semester. Um ehrlich zu sein: ich stellte es mir wahnsinnig langweilig vor. Ramona und ich hatten in der Schweiz beide schon mehrere Praktika absolviert und auch schon öfters selber unterrichtet, weshalb wir stark bezweifelten, dass wir von einer Woche zuschauen viel profitieren konnten. Andererseits war ich auch gespannt darauf, wie echte Lehrer hier unterrichteten, da das Studium ja schon recht anders ist. Was einem als erstes auffällt, ist dass die Kinder hier viel jünger sind. Die kleinsten sind hier erst 3 Jahre alt und kommen trotzdem schon jeden Tag um 8:30 Uhr in die Schule. Nach dem neuen Stundenplan, der seit diesem Schuljahr gilt, haben sowieso alle Kinder gleich lang Schule: Jeden Tag von 8:30 – 11:30 und 13:30 – 15:30. Ausser Mittwochs, da haben sie nur am Morgen Schule. Da die meisten Eltern aber eh Vollzeit arbeiten, sind die Kinder dann Nachmittags halt in irgendwelchen betreuten Aktivitäten, die von der Schule organisiert sind. Fast alle Kinder essen mittags in der Kantine der Schule und besuchen nach 15:30 Uhr noch Aktivitäten wie Schachunterricht oder Instrumente – auch in der Schule. Laut der Directrice, gehen die meisten Kinder erst nach 17:45 nach Hause, wenn die Eltern von der Arbeit kommen. Da die Kinder aber schon von klein auf daran gewöhnt sind, so viel Zeit auswärts zu verbringen, halten sie das gut durch.
Ich wurde in einer Classe Maternelle eingeteilt, dort sind die Kinder 4- bis 5-jährig. Die Altersstufe ist vergleichbar mit unserem Kindergarten, obwohl hier in Frankreich die Kinder junger und die Aktivitäten schon mehr schul-ähnlich sind. Als ich das Zimmer betrat, fiel mir als erstes auf, wie viele Tische und Stühle es hatte im Verhältnis zu den „Spielecken“, die eigentlich gar keine waren. Daran, dass der „Stuhlkreis“ (der hier aus Bänken bestand und eigentlich ein Rechteck war, aber wenn ich sagen würde „Bankrechteck“ würde das wohl kaum einer verstehen…) um die Wandtafel war, zeigt auch deutlich, wie viel näher les Maternelles an der Schule als am Kindergarten sind.
Wandtafel als Zentrum des Stuhlkreises
Während im Kindergarten in der Schweiz andere Kompetenzen im Fokus des Unterrichtes stehen, wird „Graphisme“ und die Vorbereitung auf das Erlernen der Schrift sowie zählen hier bereits gross geschrieben. Ausserdem machen sie übermässig viele Ausmalübungen, was mir als Gestaltungs liebende Person natürlich besonders auf den Magen schlägt. So ist es auch ganz normal, dass jedes Kind ein genau gleiches Zebra malt und anschliessend 22 gleiche Bilder an der Wand hängen. (Kreativität ist ja sooo überbewertet) Als ich in der Klasse war, mussten sie gerade ein Titelbild machen und mit Wattestäbchen Schneeflocken aus weisser Farbe auf ein blaues Blatt tupfen. Aber nein, die Kinder konnten nicht so viele Schneeflocken machen, wie sie wollten! Nein, die Maitresse nahm einem Kind, dass gerade langsam, aber regelmässig vor sich hintüpflete das Wattestäbchen weg und tupfte einfach auf dem Blatt herum, wo sie fand, dass es noch zu wenig hatte. Wer macht denn bitte so etwas?! Lasst den Kindern doch bitte den einen, winzig kleinen gestalterischen Freiraum, ihre Tüpfchen-Schneeflocken dort zu platzieren, wo sie sie gerne hätte! Ja, ich habe innerlich ein Bisschen geweint.
À porpos Weinen: Ja, die 3-Jährigen weinen am Anfang, wenn ihre Mütter sie zum ersten Mal verlassen. Ich stelle mir das furchtbar vor, so ein Klassenzimmer voller schreiender, heulender, verzweifelter 3-jähriger, die ihre Mami wollen. Die Lehrpersonen auf der Maternelle-Stufe haben dafür aber immer noch eine Assistentin. Das ist auch dringend nötig, denn nicht alle 3-jährigen können schon alleine aufs WC und anscheinend gibt es sogar solche, die sich vor lauter weinen übergeben müssen. Klingt toll, der Job als Assistentin, ich weiss. Aber als Lehrperson stelle ich mir das schon ziemlich toll vor, so eine Assistentin zu haben. Wenn man immer zu zweit ist, kann man auch viel mehr kleine Gruppenprojekte machen. (Oder in dem Fall hier: mit dem Sohn telefonieren, eine rauchen, Praktikantinnen herumführen… während die Assistentin draussen für einen viel kleineren Lohn auf die Kinder aufpasst.) Aber noch einmal zurück zu den weinenden Kindern: Ein Junge aus meiner Praktikumsklasse war erst im Oktober aus England hier her gezogen und hatte noch grosse Mühe, sich an den Schulalltag zu gewöhnen, weil ihm halt Mommy und Daddy fehlten. So stand er ganz traurig auf dem Pausenplatz und ich fragte ihn, was er denn habe. Er sagte: „I want my daddy“ und ich sagte ihm, dass sein Daddy nicht hier sei, aber er sei ja jetzt schon bei den grösseren Kindern (er war in der moyenne section und nicht in der petit section) und dass es sicher bald wieder gehen werde. Und darauf antwortete er mir: „No, I’m only four!“ – Wie recht dieser kleine Junge doch hatte, er war erst vier Jahre alt, er war ganz bestimmt noch kein „grosser Junge“, der von morgens um 8:30 bis nachmittags um 15:30 in der Schule sein sollte. Das machte mich auch ganz traurig. Wenigstens schien er trotz Sprachbarriere eine Freundin gefunden zu haben, denn ein Mädchen hielt fast jeden Tag, während sie draussen spielten, seine Hand.
Überraschung: Toilettes (extrèmement) publiques
Abschliessend kann ich also sagen, dass ich während dem „Praktikum“ schon einige spannende Einblicke ins französische Schulsystem erhalten habe. Das System ist zwar anders, aber die französischen Kinder sind auch herzig und die französischen Lehrpersonen sind wie diejenigen in der Schweiz, nur viel schlechter bezahlt. Und deshalb war meine Antwort auf die Frage, ob ich denn gerne in Frankreich unterrichten würde, auch stets negativ. Zumindest nicht an der Primarschule.
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